Sonntag, 26. Februar 2012

Publikum - Provokation - Porno

Es gilt - bei lauen 39,5 Grad und alles fliesst - ein paar Dinge zu klären. Wir, die Theaterfritzen müssen uns entscheiden, welchen Drall "Sevrage", unsere Lysistrata aufnehmen soll. Dies ist uns nach der freitäglichen Filage klargeworden. Einmal mehr haben wir unsere Arbeit oder besser gesagt, das was wir bis jetzt gemeinsam erarbeitet haben, einem kleinen Publikum vorgeführt. Mit einem unfertigen Bühnenbild, drei Scheinwerfern, halbfertigen Kostümen - work in progress, eben. Et voilà, comme ça. Und teilweise gröbere Reaktionen ausgelöst. Von Pornografie, unnötigen Provokationen, Kinderschutz und mehr war die Rede. Männliche Rede, notabene. In einem Land, dass zwar die Beschneidung seit 1996 per Gesetz verbietet und trotzdem über 70 Prozent (Stand 2003, mit abnehmender Tendenz) aller Frauen beschnitten sind ... Wird die Gleichberechtigung mit einem Sexstreik und einer argumentativen Überzeugung eingefordert, dann fühlen sich gewisse Männer auf den Schwanz getreten. Denn die Moral kommt vor dem Sex, surtout in der Öffentlichkeit. Der afrikanische Machismus lebt.
Argumente, die mir nicht unbekannt vorkommen. Auch in der aufgeklärten Schweiz fühlen sich die rechtenrichtigen Männer schnell provoziert, wenn sich Frauen lustvoll über das Gemächt der Männer unterhalten. Oder sich darüber verlustieren. Dabei gibt es noch immer unvergleichlich mehr abwertende Wörter für die Vulva, als für den Penis. Und wenn eine Prostituierte, wie in "Sevrage" für sich Achtung und die gleichen Rechte reklamiert, die für jeden Mann selbstverständlich sind, ist es um das Verständnis und mit der Toleranz schnell vorbei. Une pute, écoute ...?!  Im Süden wie im Norden. und im Osten. Und im Westen. Von der schlüpfrigen Scheinheiligkeit gewisser amerikanischer Politiker wollen wir gar nicht reden. Oder der jahrhundertealten selbstgedrechselten, doppelt gepoppten Sexuallehre des Vatikans, dieses Ministaates mit Weltanspruch. Und die Evangelikalen? Und, und, und?
Was haben wir, was haben unsere Schauspielerinnen denn gespielt? Nichts was der grossen Rede wert gewesen wäre. Klar schrammten einige Schauspielerinnen mit ihrem Spiel hart an sensiblen (huihui) Männer-Egos vorbei. Und ja, ein grosser Dildo wurde kurzerhand in ein Mikrophon umgewandelt. Klar haben die Frauen lustvoll les fesses dem Publikum präsentiert.  Klar war und ist noch etliches in diesem Stück unausgegoren, die Kernaussage aber: Gleichberechtigung - und Achtung für die Frauen - alle Frauen - keine Kriege mehr, unter denen alle leiden ausser die Strippenzieher, ist richtig und berechtigt. Ohne Punkt und Komma.
Der Ausgeglichenheit halber muss ich, zwingend, erwähnen, dass es auch Männer gibt, die kein Problem mit unserem bisherigen Stückverlauf haben. Und auch an jenem Abend nicht hatten. Die uns gratulierten, sich gut amüsierten und uns ermutigten, unbedingt so weiter zu machen. Sie waren einfach nicht ganz so stimmgewaltig. Die Frauen meldeten sich leider nicht zu Wort ... il faut les encourages ...
Die Gesellschaft ist in Bewegung, auch in Burkina Faso Sie zeigt Risse. Haarfeine und dickere. Vieles bricht auf. Die neuen Medien sind auch hier im Vormarsch, zeigen Ungesehenes, Neues. Ein Klick kann der Schlüssel in eine neue Welt sein. Noch weht der arabische Frühling nicht in den Subsahara Staaten, wird er peut-être auch nicht, doch eine Brise ist durchaus hin und wieder zu spüren. Die jungen Menschen wollen eine Zukunft und keine leeren Versprechungen. Surtout les femmes. Blaise Comparoè wird sich warm anziehen müssen, wenn die nächsten Wahlen 2015 anstehen.

Wer hat Angst vor starken Frauen?
Derweil wir weiter diskutieren. Soll Theater aufklären, provo- und evozieren oder soll es einfach unterhalten? Kann oder muss Theater Ansprüche stellen und wenn ja welche? Und wer trägt die Verantwortung? Der Autor, der Regisseur, die Produzenten, das Publikum? Diese Fragen beschäftigen alle Theatermachenden immer wieder. Führen mitunter zu heftigsten Auseinandersetzungen, theatral-ideologisch geführten Debatten, Querelen, Erkenntnissen, Glücksmomenten bis hin zu Verdankungen. Die Antworten können nie einfach ausfallen, denn wo Menschen Menschen - Stereo-, Arche-, Proto-Typen - darstellen, menschelt es zutiefst. In allen Ecken und Bereichen. Vor, auf und hinter der Bühne. Und wir bilden keine Ausnahmen, sind immer parteiisch, immer auch fehlbar. Und das liebe Publikum, das blöde Publikum ... Publikum ist ja nie einfach blosse Anzahl Menschen. Das Publikum hat: ein geteiltes Ziel - eine Theatervorstellung gemeinsam und freiwillig (in der Regel ...) besuchen - und ein ungeteiltes, individuelles - das Rezeptieren des Gesehenen. Im Kontext der eigenen Moralvorstellungen. Und an diesen knabbern Theatermenschen gerne herum. Wir arbeiten weiter. Nicht unbeirrt, aber überzeugt.
An das Publikum
O hochverehrtes Publikum,
sag mal: Bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: "Das Publikum will es so!"
Jeder Filmfritze sagt: "Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!"
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
"Gute Bücher gehn eben nicht!"
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte...
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
Ja dann...
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmässigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Griesbrei-Fresser-?
Ja, dann...
Ja, dann verdienst dus nicht besser
(Kurt Tucholsky)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen