Die Grenzerfahrung |
Eigentlich wollte ich bereits vor zwei Tagen etwas über unseren Theatervorhang schreiben. Etwas über Grenzen. In etwa so:
Grenzen sind durchlässig, Grenzen sind unbeständig, Grenzen sind niemals ganz. Grenzen bewegen sich zwischen Vorher und Nachher, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Gestern und Heute. Grenzen markieren. Grenzen sind Zen. Grenzen sind gemacht. Grenzen sind endlich.
Unser brillanter Theatervorhang markiert die Grenze zwischen dem Jenseits und dem Diesseits und begrenzt unsere Bühne.
Ausserdem versuchte ich stundenlang einen kleinen Film aufzuladen, was mir aber nicht gelang. Nun ja, es war nicht das erste Mal, dass etwas nicht so geht, wie ich es mir vorstelle. Also liess ich alles ruhen und das Bloggen liess ich sein.
Gestern dann ein Konzertbesuch, eine Plattentaufe gar. Im Institut Français in Ouagadougou, zur frühen Stunde, 19h, ein sogenanntes Cafés Concerts. Dauer jeweils eine Stunde, Gratiseintritt. Am Eingang Kontrolle mit Metalldetektoren und Zeig-mal-deine-Tasche, wie bei einem Fussballmatch, ou bien? Einheimische und Ausheimische, allen voran die grosse französische Community aller Couleur treffen sich jeweils im IF. Man schaut Theater, Film, folgt Diskussionen, leiht sich ein Buch aus, nimmt an einem Tanzkurs teil, trifft Freunde. Hört ein Konzert.
Noufou Kaboré und Band stellten gestern ihr Album "Sora Zuge" (Sur la route) vor. Alles ganz entspannt. Inspirierte Musiker, lockere Tenues, spielende Kinder. Man trinkt Bier, Wein oder ein Youki Tonic, plaudert, trifft bekannte und unbekannte Gesichter.
Angekündigt ist das letzte Chanson, es handelt vom Frieden und von der Kraft des Vergebens ... Voilà. Etwas Jazz, etwas Mandingue, etwas Pop.
Dann plötzlich stellt sich ein Angestellter des Instituts vor das Publikum. Hält die Hände in die Höhe und beschwört die Leute: Achtung, Achtung wir haben die Nachricht erhalten, dass ...
Der Satz war nicht ausgesprochen, als sich die ersten bereits unter die Tische stürzten, schoben, drückten und in alle Richtungen auseinander stoben. Bevor ich genau wusste wie mir geschah, brannten sich mir einer Zeitlupenaufnahme gleich diverse Bilder in die Netzhaut. Die jungen unerfahrenen Militärs am Eingang, die panisch davonstoben, es wurde alles in Dunkelheit getaucht, das Licht viel weg, Schuhe, Beine, Hände und mein Hand die nach dem Rucksack greift. Unendlich langsam und gleichzeitig superschnell. Und meine Körpertemperatur, die im Bruchteil von Sekunden ins Eiskalte rutschte. Jetzt wird dann geschossen, jetzt kommen die Kugeln, wie kann man hier entkommen und wo ist ein zweiter Ausgang? Gibt es überhaupt einen zweiten Ausgang? Ich war bereits einige Male im IF, aber ich habe mir diese Fragen nie gestellt. Wozu auch?
Kriechen oder ruhig stellen? Urbain, mein Schwiegersohn, der während des Konzerts die Calabasse spielte ist hinter mir und sagte leise: Bleib hier, ruhig hinter diesem Baum. Kinder schrieen, Eltern riefen nach ihren Kinder, Worte purzelten, französisch, moore, deutsch, italienisch, hohe Töne, Staub und es wird weiter geschoben. Tische, Stühle fallen um. Panik. Masse und Macht und Ohnmacht.
Ich kann nicht ruhig liegen, ich muss aufstehen, muss mich umsehen, muss die Dinge - welche Dinge, verdammt nochmals geschehen hier? - in die Hand nehmen, glaube ich, will ich, muss ich. Die ganze Menge hat sich um einige Meter verschoben, chaotisch und doch verschoben. Die Leute stehen wieder auf, schauen sich an und um. Alles ist angespannt, keine Informationen, niemand übernimmt den Lead, sagt an.
Hé, hé, da ist gar nichts.
Hé, hé wo sind DIE?
Wer sind DIE?
Was macht das Militär?
Kann man sich hier verstecken?
Hat jemand den kleinen Jungen gesehen?
Ist das nicht dein Telefon?
Wer hat was gesagt?
Können wir einfach nach Hause gehen?
Ist jetzt alles vorbei?
Was genau ist passiert?
Was ist in der Stadt?
Wo, wo, wo? Was?
Gewehrschüsse, kein Feuerwerk?
Also doch?
Was doch?
Was, jemand hat das Bein gebrochen?
Ein weiterer Staatsstreich?
Alle starren unablässig auf ihre Smartphones, aber die geben keine Antworten. Sind aber ein Lichtblick. Licht im Dunkeln und das Gefühl, das noch etwas funktioniert.
Dann gehen die Lichter wieder an. Alles vorbei, jetzt? Die Fragen bleiben und weiterhin wird gerufen und gesucht. Tu est ou? Ou tu est?
Jetzt steht eine Frau vor die Menge (rund 80 Personen) und erklärt uns, dass wir uns in den zweiten Stock der Bibliothek? begeben können und uns dort "verstecken", "zurückziehen", "sammeln"???
Einige wollen, einig hören gar nicht zu, weiterhin herrscht die totale Konfusion. Paff, das Licht ist wieder weg. Längst hat sich meine Temperatur normalisiert, mein Puls ebenso, aber meine Blase ist voll. Ich muss dringend pissen. Ich gehe pissen und bin ein bisschen getrösten durch den Umstand, dass die Toilette einigermassen sauber ist. Normalität durch Sauberkeit. Hahaha. Einst schrieben wir: Nur sauber gekämmt sind wir wirklich frei. Sososo. Und jetzt?
Die Menschen stehen bewegt am Ort.
Urbain und Noufou und seine Band stehen beisammen. Die ersten Menschen wagen sich auf die Strasse, wir gehen hinterher. Urbain nimmt mich an die Hand. Schön. Draussen ist nichts zu sehen. Die Strasse ist ruhig. Dafür sind Gewehrsalven und Detonationen zu hören. So also hört sich das an, so. Zum ersten Mal in meinem Leben höre ich diese Geräusche, ungefiltert. Keine Verzerrungen durch TV oder Radiowellen. Urbain sucht seinen Töff. Es sind die Kleinigkeiten, die sofort zu einer Unruhe führen. Wie sollen wir nach Hause kommen, wenn der Töff weg ist? Aber der Töff ist gar nicht weg, er wird ganz einfach in der Hektik übersehen.
Und dann fahren wir weg und der Fahrtwind bläst uns entgegen und wir leben. Es ist alles so banal.
Welche Information führte dazu, dass die Leute in Panik gerieten?
Die französische Botschaft informierte via ihre Kanäle über eine terroristische Attacke in Ouagadougou. Die französische Gemeinde in Ouaga ist, verständlicherweise allarmierter und sensibilisierter als andere (Exkolonialmacht, Engagement in Mali, Attacke in Mali, Paris etc.). Gemischt mit verschieden Gerüchten, Interpretationen und Unsicherheiten führten sie zu einer falschen Einschätzung der Situation im IF. Und grenzenlos wurde via FB, Twitter, Portable weiter gezwitschert was das Zeug hielt.
Ich will ins Theater, ins C.I.T.O. und sehen was dort läuft. Könnte ja sein, dass es Quartier gibt, die noch keine Ahnung haben was vor sich geht. Im Theater angekommen sind unsere Schauspieler noch voller Elan im Spiel. Zwar verlassen immer mehr Besucher das Theater, aber noch wird gelacht.
Ich erkundige mich, warum das Stück noch nicht abgebrochen worden ist? Man wolle eine Panik vermeiden und es sei ja ruhig im Quartier, erhalte ich zur Antwort. Als immer mehr Unruhe im Theater aufkommt, trete ich in die Szene und breche die Vorstellung ab. Ich informiere darüber, was ich zu jenem Zeitpunkt weiss und bitte die Zuschauer ruhig nach Hause zu gehen und sich über die Medien à jour zu halten. Alles verläuft ruhig.
Die Schauspieler ziehen sich um und gemeinsam fahren wir in unser "Quartierhotel", pas de luxe. Unser Regisseur ist noch mit unserer Kommunikationsfachfrau unterwegs, sie wollten an einer Preisverleihung teilnehmen, beide sind safe.
Wir hören bis spät in die Nacht les nouvelles. Die Gerüchteküche kocht hoch, unbestätigt sind viel Informationen, die meisten Infos tröpfeln über ausländische Kanäle ein. Nur eines ist sicher, Ouagadougou ist nicht mehr das Ouagadougou, das es einst war. Die Adrenalinspiegel sind hoch und immer und immer wieder sind Explosionen und Gewehrsalven zu hören.
Die Nacht ist kurz und wir sind alle mehr oder wenige schlaflos in Ouaga. Um 4h in der Früh ruft der Muezzin zum Gebet, der Güggel hält mit und die Erstürmung des Hotels Splendit beginnt.
Grenzen wurden überschritten und Grenzen wurden gezogen, aber nicht im Theater.
Wir gedenken allen Opfern und sind in Gedanken mit den Angehörigen und den Verletzten.
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