Dienstag, 13. März 2012

Weggehen ist einfacher - die Schweiz hat uns wieder

... plus de poulet al ail ...

... plus de pavarder ... 

Wir können es drehen wie wir wollen, wir können uns sträuben, wir können weinen, wir könnten verlängern und müssen doch nach Hause. Gen Norden. Unsere Zeit ist abgelaufen. Fini. Adieu. Au Revoir. Wir geben uns die linke Hand im Wissen um eine Rückkehr. Bien sûr. Wir herzen, wir küssen, wir lachen, wir umarmen, wir weinen gemeinsam.
SEVRAGE wird einen Monat lang in Ouagadougou aufgeführt und - pas du souci - ein Erfolg werden. Im Oktober wird das Stück wieder aufgenommen und auf Tournee gehen. Bis dahin wird hoffentlich viel Regen das Land der Aufrechten durchdringen und alle Wasserspeicher füllen, la poussiere wegwischen, Monsieur Harmattan in die Ferien schicken und für eine gute Ernte sorgen. Wehe wenn nicht ... Hunger ist immer ein Thema in Westafrika.

„Hunger ist ein Skandal“ (vgl. EvB, Erklärung von Bern, 1979)! Dieser Slogan der 1970er Jahre hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Wir leben in einer Welt, die nie zuvor so viele Reichtümer produziert hat. Auch wird – im statistischen Durchschnitt – längst mehr Nahrung produziert, als die Weltbevölkerung benötigt. Hunger existiert daher nicht, weil es nicht genug Nahrungsmittel gibt. 

Aber noch ist es nicht soweit, noch steht die heisseste Zeit dem Land bevor. Die Strassen werden glühen, flimmern brennen. Klimaanlagen - wer den eine hat, das heisst die Minderheit - werden ununterbrochen kühlen, ausser es kommt zu Stromunterbrüchen, weil alle Klimaanlagen immer kühlen ... Das Wasser wird nicht immer fliessen ... es wird rationiert werden ...
Und wir besteigen den Flieger und auf geht's ins Land der Konti und Versicherungen. Und der Arbeit. Vier Wochen Ferien sind genug hat der Souverän, ganz unsouverän entschieden, wird uns noch auf der Heimreise beschieden. Und in Zürich werden Sexboxen zum Abspritzen errichtet. Das sind Fortschritte. Aber jetzt (noch) nicht klagen. Hinter uns liegt ein Erfahrungsschatz, den wir speichern und jederzeit abrufen können, wenn wir ihn benötigen. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod und doch schafft er Platz für Neues. Ich bin wehmütig und sehnsüchtig en même temps. Allez, alle meine Heissgeliebten warten. J. und G. und U. und I. und B. und A. und S. und Z. und Y. und K. und E. und das ganze ABC.  Und ich freue mich auf euch. Gross, sehr gross.



 ... plus de réunion ... en plain air ...

Montag, 12. März 2012

Le 8 mars et voilà, c'est comme ça!

Der Tag begann plan-, will schreiben bilderbuchmässig. Trankil der Einstieg, etwas Wind und viel Temperatur, will schreiben bereits um 10 Uhr war es so heiss, dass meine Kniekehlen schwitzten. Auf dem Weg in die Innenstadt, auf dem chinesischen Roller, Staub im Haar, Dreckluft. Ebenfalls auf dem Weg, die Frauen. Es ist 8. März, es ist internationaler Frauentag. Ein Frei- und Festtag in ganz vielen afrikanischen Staaten. Und alle Frauen, die es sich leisten können, haben sich sich prächtige, schöne, konventionelle, sexy, très en mode-Modelle auf den Körper schneideren lassen. Mit dem Extra-Stoff zum 8. März.

En tenue - 8 mars 2012, Ouagdougou
Und heute ist ebenfalls unser Tag. Premiere. Wir sind alle ein bisschen angespannt, ein bisschen nervös. Wir tändeln herum, und die Stunden vergehen trotzdem im Minutentakt. Tick, tack, tick, tack.
Lysistrata, die Starke. Wenn Frau nicht will, geht gar nichts mehr. Voilà, c'est comme ça! SEVRAGE unser Stück. Wie wird es ankommen, wird unsere Truppe en forme sein? Trankil, pas de souci. Wer zweifelt, zweifelt für sich.

Markieren ist wichtig
Unsere Arbeit ist praktisch abgeschlossen.. Nun gehört das Stück den Schauspielerinnen und Schauspielern. Sie werden SEVRAGE Leben einhauchen, das Stück zum Leben erwecken. Im besten Fall. Im schlechteren werden sie das Stück durchpeitschen oder durchhängen. Mais, pas de souci - jetzt muss das Kind ins Licht, raus auf die Welt, werfen wir es auf die berühmten Bretter, äh den Beton des C.I.T.O.  Keine Sorge, das Kind ist stark. Hoffentlich kommt genug Publikum. Denn in der Regel geben die Frauen an diesem Tag Vollgas. Es wird getanzt, getrunken (nicht wenig), gegessen, geflirtet, es werden Reden gehalten, die Zukunft wird beschworen, die Vergangenheit gelobt. Resümieren, präsentieren, überzeugen. Die Zukunft gehört den Frauen, gemeinsam mit den Männern - und ist nicht verweiblicht, wie so gerne in Helvetien von so etlichen "richtigen" Männern und Pädagogen, salutiert von selbstgerechten Mitstreiterinnen, moniert wird. Sissitussis, Angsthasen. Wer Angst vor Frauen hat - restez a la maison! Macht den Haushalt, schaut zu den Kindern, macht die Wäsche, unentgeltlich und geht irgendeiner mies oder gar nicht bezahlten Arbeit nach, lasst euch ausbeuten, ... Aya! Schluss damit!

SEVRAGE - plus de sex
Wir haben unseren Schauspielerinnen und Schauspielern in den letzten Tagen noch einiges mit auf den Weg gegeben. Haben Text gestrichen, Szenen wieder und wieder durchgespielt, Übergänge geprobt, mit den Musikern Stück um Stück definiert, das Licht ins Licht gesetzt. Standpunkte markiert.
Loslassen. Jetzt. Noch fehlt der richtige Atem, noch fehlt das Publikum. Nach unzähligen Diskussionen, hunderten von Probestunden, Auseinandersetzungen, Reibungen, wenig Tränen, viel Lachen, nach harter Arbeit hoffen wir auf jenen magischen Moment, hoffen wir auf die Verwandlung. Wenn aus Gedachtem und Arbeit Kunst wird. Wenn die Welt stillsteht und für einen Augenblick aus der Bahn gerät. Wenn der berühmte Funke überspringt und Akteure und Zuschauer eins werden. C'est magique, c'est l'amour, c'est saint. Im besten Fall.


Ankunft C.I.T.O
Und dann ist es plötzlich Abend. Und es geht los. Und das Publikum strömt und längst nicht alle finden Einlass. Und die Presse ist zahlreich vertreten, fast übervertreten. Und wir verschwören uns zum letzen Mal mit der ganzen Equipe. Spucke, Spucke, Spucke (Theaterritual). GO!
Bereits nach wenigen Minuten ist klar, SEVRAGE kommt an. Das Publikum geht mit auf die Reise. Dazwischen werden Kinder gestillt, wird geflüstert, werden Kommentare eingeworfen, wird getrunken, wird viel und laut gelacht, hört man die Toilettenspülung. Alles inbegriffen. Szenenapplaus. Alles im besten Fall. Und klar waren da ein patt Patzer, Schnitzer, Fehler. Aber, das Stück steht, jetzt wird es mit jedem Tag, mit jeder Erfahrung der Akteure reichhaltiger und verdichteter werden. Im besten Fall.

Wir sind stolz, wir sind überglücklich. Der Schlussapplaus ist lange. Bravorufe schmeicheln dem Ego. Das ist mehr als Zahltag. Über dreissig Burkinabé und ein Schweizer-Trio haben sich ein- und ausgesetzt.
Haben sprachliche und kulturellen Barrieren überwunden, sind über Schatten gesprungen, haben sich kennen und schätzen gelernt. Wir sind vereint.
Über Ouagadougou steht la lune.








Donnerstag, 8. März 2012

Im Schatten des Baobab - l'autre côte de l'Afrique

Bis jetzt hat uns das ganze religiöse, spirituelle bisweilen unheimliche Afrika nur sanft gestreichelt. Was nicht bedeutet, dass es nicht immer da und spürbar ist. All die Geister, Ahnen, Hexen, Flüche, Wünsche, Vorsichtsmassnahmen, abergläubischen Handlungen. Alles steht im immerwährenden 24-Stunden-Dienst. Man kann dran glauben oder nicht, hier tun es - mit Ausnahmen - alle. Es ist keine Glaubensfrage, es ist einfach so. War schon immer so. Wird auch so bleiben, wird einem beinahe trotzig erklärt, wenn man die Atheisten-Fahne hisst, ungläubiges Erstaunen oder gar Nichtglaubenwollen signalisiert.
Unabhängig davon, ob man noch Christ, Moslem oder was weiss ich den zum Teufel, ist. Verlässliche Angaben von wegen Religionszugehörigkeit der Burkinabé lassen sich schwer ausmachen, da sich etliche zu mehreren Religionen bekennen oder auch oftmals die Glaubensrichtung wechseln. Man glaubt, aber nicht soooo eingeschränkt. Und so leben viele Muslime und Christen ihren Glauben im Einklang mit den Traditionen und animistischen Glaubensvorstellungen ihrer Volksgruppen.

Enfin, l'animusme est ne religion en termes de vie, de vécu d'actes quotidiens en rapport au sacré, au passe er non pas termes de pensée, de logique ou de dogme. petit futé 2010-2011, page 71

Voilà. Das bedeutet, wie ja bereits ausführlich beschrieben, dass heilige Krokodile handzahm sind. Wie auch eine heilige Riesenpython, die irgendwo auf dem Land lebte und ebenfalls für Nichts und Niemanden eine Gefahr darstellte, bis sie eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwand, wie uns glaubhaft versichert wurde.


Baobab


Oder wenn Schwangere in einer bestimmten Stadt (den Namen habe ich natürlich nicht behalten können) über einen bestimmten Fluss gehen, werden sie ganz sicher ihr Kind verlieren. Keine Fragen bitte, das ist so. Westhirn ausschalten, wir sind nicht in Geldcity. 
Frauen sollten auch ihre Handtasche nie auf den Boden stellen, dann geht alles Geld verloren. Und so brauchen unsere Schauspielerinnen, wie ich längst auch, immer zwei Stühle. 
Wer im Maquis etwas zum Trinken bestellt, wird mit dem ersten Schluck das Glas ausspülen und ihn dann den Geistern übergeben.
Die Welt zwischen den Welten ist reichhaltig und voller Überraschungen. Zumindest für uns. Ich habe es längst aufgegeben mich da zurecht zu finden. Ich nehme was mir gefällt und versuche möglichst in keine Fettnäpfchen zu treten. Und meinen kritischen Spirit nicht verhungern zu lassen.
So war zum Beispiel ein Besuch in der frühen Morgenstunde beim Marabu, der ja eine Art Mittler zwischen den Welten darstellt, recht ernüchternd. Meine vorgetragenen Fürbitte war einfach, wie er mir erklärte. Und kostete mich ein 3er-Geflügel-Sacrificé: ein Huhn, ein Perlhuhn und eine Taube. Lebend. Logisch. Und er würde zwischen 2 und 4 Uhr in der Früh für mich beten. Punkt. Natürlich würde sich meine Chancen auf Erfüllung erhöhnen, wenn ich ein Schaf oder eine Ziege kaufen würde, aber okay es sollte auch so gehen. 
Der Marabu, der mir einen, sagen wir mal recht berauschten Eindruck machte, schriebt dann rasch und behende Zeichen in eine Sandtafel, murmelte in einer mir unbekannte Sprache, faltete ein Zettelchen, auf das ich spucken und gleichzeitig meinen Wunsch fokussieren sollte und klebte dann meinen Wunsch an die rauhe Wand in seinem Audienzraum. Ohne Leim. Und das kleine Papierchen hing an der Wand. Es würde mit der Erfüllung meines Wunsches herunterfallen ... Vielleicht sollte ich noch anfügen, dass während der Zeremonie Meister Marabu rege telefoniert und offensichtlich Parallelberatungen tätigte. Das alles geschah während meines ersten Aufenthaltes in BF im Jahre 2008.  Das Papierchen muss immer noch dort hängen ... Seither habe ich keinen Marabu mehr aufgesucht, dafür die heiligen Krokos gefüttert. Was unseren Metteur en Scène in eine kleinere Gewissenskrise stürzte, den im Nachhall, fand er es gemein, dass die Poulets lebend verfüttert wurden ... Er schlief dann eine Nacht schlecht ... 
L'animisme ou "religion de l'âme et des esprits" n'est pas une religion universaliste, à l'opposé de la plupart des grands religions du monde. Chaque peuple, voir chaque village, chaque clan, etc. pratique son propre animisme, basé sur une tradition spécifique original, présentant des analogies avec les cultes voisins mais aussi de grandes différences dans leur élaboration. petit futé 2010-2011, pages 70
Nebst all dieser Vielfalt müssten ja auch noch all die Zeremonien, Masken, Inititationen et tututut  erwähnt werden. Mach ich jetzt aber nicht, denn erstens ist dieses Gebiet praktisches  Neuland, auch wenn ich dauernd irgendwelche schönen Masken in die Schweiz nehme, und zweitens kann ich nur dazu aufrufen, das Afrika unterhalb der Sahara kennen zu lernen.  Ca vaut la peine. Hundertprozentig.

Braucht keine Kühlkette - Sacrificé
Und ich weiss, auch wenn ich nicht weiss warum; die Geister sind uns wohlgesinnt. Sie mögen Theater - wir mögen sie.



Montag, 5. März 2012

Klartext und Abtanzen

Was für ein Samstag, was für ein Sonntag, was für ein Freitag, was für ein Donnerstag!
Alles schön der Reihe nach.
Wir haben jetzt die dritte filage (für Theaterunkundige: Durchlauf = das ganze Theaterstück wird integral durchgespielt, also ohne Unterbruch und vor ausgewähltem Publikum) hinter uns. Und damit die Talsohle erreicht und ein ALLEZ erreicht. Das heisst ausgedeutscht: Schlechter kann das Stück nicht mehr gespielt werden und gleichzeitig haben wir von der CITO-Administration sozusagen das GzS, das Gut zum Spiel erhalten. Die ganze Minipolemik über - das Stück enthält pornografisches und öbszones Material - ist vom Tisch. Das hat gefreut und bestärkt. Das Spiel war nicht so gefreut. Leider. Es kam aber auch nicht ganz unerwartet. Nach über einem Monat intensiver Arbeit, war - wenn wundert's - mich nicht - ein Spannungsabfall der gröberen Art zu konstatieren. Beh ... Wie jedes Theaterstück eine Dramaturgie hat, so hat auch jedes Projekt eine Dramaturgie. Im Gegensatz zum Theater, dass im guten Fall eine bewusst inszeniert Dramaturgie hat, kann man die Dramaturgie während eines Prozesses schwerlich bestimmen. In der Regel und mit einem Schatz an Erfahrung, weiss man einfach, dass irgendwann ein Tiefpunkt, irgendwann ein Höhepunkt erreicht sein wird. C'est comme ça. Die Muse der Kreativität kann halt ganz schön  kaprizieren, wenn sie Unlust verspürt. Und unsere Frauen mit ihr. Sie spielten mit Unterspannung, als ob dieses Stück, irgendwo für irgend wenn irgendwann einmal par examples ... , aber sicher nicht mit ihnen, gespielte werden wird. Sie bewegten sich nicht, standen neben ihren Texten, verpassten längst choregrafierte Einsätze, liessen sich und noch viel mehr die Männer - die im Gegensatz zu den Frauen gut spielten, so gut sie in diesem Schlepprhythmus überhaupt spielen konnten - verhungern, das heisst im Stich. Wir litten, sie litten nicht. In jeder Spielpause wurde getratscht, SMS verschickt, ein bisschen maquillage aufgetragen, gegessen und getrunken, vieles was Frauen eben auch so tun, halt. Einfach verdammt noch einmal nicht bei der Arbeit! Und auch die beiden Musiker rissen sich keine Note zuviel aus dem Ärmel. Ihr TamTam schleppte sich dahin, wie der versiegende Volta (Fluss in BF). All dieses geschah am Donnerstag.

L'homme tendon - die Männer gaben sich Mühe, die Frauen hängten ab
So kam es zur grossen Freitags-Frauen-Schelte. Und auch die Musiker kriegten ihr beurre de karité weg. Wir hatten vorher gemeinsam mit Rachel, unserer unentbehrlichen Regie-Assistentin eine Videoanalyse gemacht und Szene für Szene durchgesprochen. Und es war kristallklar: Klartext muss her! Le metteur en scène enervierte sich in der Folge, sprach sich in Rage. Das Stück heisst ja nicht umsonst: Sev-RAGE!

Und dann sassen alle da, liessen die Köpfe hängen. Und für eine gefühlte Ewigkeit herrschte Stille - ausser der gegenwärtigen Stadtmelodie de Ouaga.
Später stellte sich heraus, dass sich die meisten Schauspielerinnen während le filage auch nicht wohl gefühlt hätten ... Die Musiker verteidigten sich und suchten nach Ausreden ... D'accord und retour au travaille. Vite, vite. Die Uhr tickt.
Und siehe da - plötzlich war sie wieder da, die Energie, die Spielfreude - das Theater.

Kropfleerete
Samstagabend das längst versprochene Fest mit allen Beteiligten. Augusta, unsere Lysistrata, nebst dem Schauspielberuf eine äusserst umtriebige und gutvernetzte Geschäftsfrau, hatte alles organisiert. Es wurde getratscht, gelacht, gegessen und später zog es einen Teil der Gesellschaft noch in den samstäglichen Ausgang.

chez Augusta
le buffet

Allez! Nous dancerons dans une boite. Diskofieber, afrikanisch. Angekommen dachte la dramaturge, beh ça, ça va pas de tout! Da hole ich mir ja einen Tinitus afrikanisus. Der Sound infernalisch laut, dröhnende Boxen undefinierbare Musik, schnelle Rhythmen, ein fortwährendes Brummen auf den Boxen, ein DJ, der dauernd irgendwas promotete und rein brüllte, sowie gefühlte 45 Grad. Doch die Nacht war zu jung und der Drang nach Abtanzen zu gross um sich jetzt auf die chinesische polyesterbezogene,wäckigäcki Schaumstoffmatratze zu legen und schlecht zu träumen weil die Heimreise naht. Go!
Loslassen, die Welt anhalten, Dasein. Und wie. Der Schweiss floss in Bächen, wir schwangen les fesses - und die nicht mal schlecht - mitreissen lassen, sich dem Zauber ergeben, dem Rhythmus allen Ballast übergeben, das Denken sein lassen - es war einfach geil!
Denn anders als im gutstrukturierten urbanzürcherischen coolen Szene-Kontext, wo man genau weiss, wo man hingehört oder eben auch nicht, ist hier die Durchmischung des Publikums um einiges besser. Und alle tanzen mit allen. Dick mit Dünn, Frau mit Frau, Alt mit Jung, Gross mit Klein, Schwarz mit Weiss. Der Flirtfaktor ist hoch, aber nie schleimig. Und Paare geben sich immer wieder zu erkennen, tanzen gemeinsam. Da kann es auch vorkommen, dass sich zwei Männchen um ein Weibchen prügeln. Es gibt keinen Einheitsstil, alles ist erlaubt. Und NEIN, es können nicht alle Afrikanerinnen und Afrikaner gut tanzen, das ist ein Scheissklischée, aber diejenigen die gerne tanzen, tanzen oft sehr gut (auch die Männer, und wie!) und diejenigen, die weniger gut tanzen - tant pis, pas de problème. Und so kam es, dass so gegen drei in der Früh - unter der Regie der Venus, die hoch oben strahlte - die ganze boite brodelte. Und deux danseures (Schauspieler, claro que si) eine Tanzbattle auf den Plättliboden klatschten, die dem Liedtext folgte - irgendwas kriegerisches - in einem Affentempo, variantenreich, witzig, parodistisch, sportlich, mimisch grandios, unbeschreiblich, unvergesslich. Sich Auskotzen kann so schön sein.

Den Sonntag  hielten wir in Ehren, trankil.



Samstag, 3. März 2012

Zeit und Effizienz ist relativ, quoi alors?

Manchmal ist es einfach nur zu heiss, zu staubig, zu dreckig - ici en Quaga. Vieles wird (trotz Abfallentsorgung mit Eselkaren) sur place verbrannt und entsorgt. Pneus, Batterien, Abfall, Motorenöl und hunderttausende von schwarzen Plastiksäcken. Quelle leichtgewichtiger horreur! Morgens in der Früh, mitten in der Nacht, jederzeit und überall. Es ist keine Rarität, dass sich der Himmel über Ouaga schwarz verfärbt weil irgendwo eine cochonnerie in Rauch aufgeht. Und wir Weissgesichter skeptisch Himmelwärts schauen und uns fragen, ob dieser Rauch wohl gefährlich sei (wir, die Überversicherten)?  Und weil wir sicher von keinem Bukinabé (Ausnahmen gibt es auch hier, logisch) keine schlüssige Antwort erhalten - irgendwo wird irgendwas verbrannt et alors? - stellen wir uns bereits die nächste Frage? Warum genau sind wir hier?


In der Regel Frauenarbeit

Die Antwort scheint einfach: Weil wir hier Theater machen. Stimmt! ist aber nur die halbe Wahrheit. Wir könnten ja auch in Grönland, Holland oder Schottland Theater machen, n'est pas? Wäre zweifellos auch intressant, mais ... es ist Westafrika, es ist Burkina Faso, das Land der Aufrechten. Weil hier, meint le metteur en scène Roger Nydegger meint, Theater noch etwas bewirke. Weil die Improvisationsfreude der Schauspieler  und Schauspielerinnen grossartig sei. Weil es hier möglich sei mit einer grossen Equipe zu arbeiten (das können in la Suisse noch wenige Häuser, geschweige denn freie Gruppen). Weil das Theater zum Volk und das Volk zum Theater gehöre, weil das Theater hier auch politisch sein dürfe, weil das Publikum unmittelbar reagiere, weil jede Aufführung immer auch ein Fest sei, weil mit jedem erarbeiten eines Theaterstückes Freundschaften vertieft und neue Beziehungen geschaffen würden.
Stimmt! Und ein bisschen auch, weil Zeit und Effizienz eine ganz andere Bedeutung haben. Ici en l'Afrique de l'ouest. Bei der Arbeit, im Alltag, überall. On cause un peu - halten wir ein kleines Schwätzchen, das gehört zur Alltagskultur. Sei es auf der Strasse, auf dem Markt, im Maquis (Restaurant), im Bus, auf dem Velo. Wie Marceline. siebenfache Mutter, mehrfache Grossmutter, verwitwet, pensioniert - was heisst das denn in BF? Es heisst weiterhin jeden Tag ums Überleben kämpfen - die mit mir auf den Bus Nr. 10 wartete.

Bus no. 10

Und mich nullkommaplötzlich in ein Gespräch verwickelte. Wissen wollte warum ich hier sei, was ich mache und wie es mir gefalle. Ja, kann man jetzt einwerfen, das sind doch die drei Standartfragen an Touris ... Ja, kann ich antworten: Stimmt. Aber Marceline war auch voller Zuversicht, dass der Bus kommt, auch wenn sie nicht wusste wann. Ich, personellment, hätte längst aufgegeben und im Angesicht meines Schweisses einfach ein Taxi bestellt. Der Bus kam, verspätet nach unseren Massstäben, er kam nach hiesigen Massstäben. Punkt. Vor dem Aussteigen erkundigte sie sich auch nach meiner Telefonnummer. Und NEIN, sie wollte kein Geld, als sie mich später anrief um sich zu erkundigen, ob ich mein Ziel gut erreicht hätte. Hatte ich und ihr Telefonanruf streichelte meine Seele. Punkt.  Und JA, es gibt auch welche, die immer Geld wollen. Und es sind nicht immer die Ärmsten. Es ist so: Jede Weisse, jeder Weisse muss mit seinem persönlichen, monetären NORD-SÜD-Gefälle klar kommen, täglich und immer wieder auf's Neue. Punkt. Ich wiederhole mich, ich weiss.

Marceline


Eine schöne Effizienzgeschichte ist auch diejenige unseres Szenographen Bölsterli. Unermüdlich und ameisenfleissig bemüht er sich mit seiner Equipe, die zuständig ist für das gesamte Decor (Bühnenbild) und die Accessoires, uns Theaterschaffenden einen gut zu bespielenden Raum zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zur Schauspieltruppe, arbeiten er und seine Jungs tagsüber (locker über 40 Grad), damit wir abends (easy 30 Grad) proben können. Die Männer schweissen, zimmern, sägen, hämmern, schneiden, malen und so.

Braune Farbe kaufen? Non mom ami, zu teuer. Nimm Nescafe und Wasser ...

Zum Beispiel Schrauben montieren.
  • Wieviele Schrauben brauchst du?
  • Weiss nicht.
  • Eine Schachtel sollte reichen? 
  • Hmm. Möglich.
  • Gehst du Schrauben holen?
  • Oui mon ami, pas de problème 
  • (10 min später)
  • Bist du schon zurück?
  • Non, mon ami. Bin gar noch nicht gegangen.
  • Aha, warum?
  • Habe Nescafe getrunken.
  • Aha, trankil. Hättest du Zeit, jetzt zu gehen?
  • D'accord, aber ich brauche Geld. 
  • Aha.
Eine Stunde (inkl. Schrauben einkaufen) und eine Schachtel Schrauben später ...
  • Ich brauche Schrauben.
  • Aha.
  • Es hat keine Schrauben mehr.
  • D'accord. Wieviele Schrauben brauchst du noch?
  • Weiss nicht.
  • D'accord. 
  • Brauchst du Geld?
  • Oui, mon ami. 
Eine weitere Stunde (inkl. Schrauben einkaufen) später ...
  • Bist du fertig?
  • Pas encore, mon ami.
  • Warum?
  • Es hat keine Schrauben mehr.
  • Aha. (Jetzt muss le blanc einen Nescafe haben)
Pas de problèmes, mon ami.
Irgendwann ist die Arbeit erledigt und ausgeführt - alors, pas de problèmes.
Ja, sicher in der Schweiz, denken jetzt viele, könnte man so nicht arbeiten. Viel zu ineffizient. In der Schweiz kann man in der Regel auch rechnen, kalkulieren und planen. So liegt es an uns, die Arbeitsweise anzupassen. Und das ist auch richtig so. Punkt.

Hier ist Zeit nicht einfach Geld, denn heute ist heute - und morgen, morgen ist ein anderer Tag. Zeit ist hier (noch) relativ(er) - ich habe keine Ahnung, ob das mathematisch geht, ist mir aber auch egal - denn Zeit und Arbeitskräfte sind hier im Überfluss vorhanden.
Alors, on cause un peu. Aus all diesen und tausend anderen Gründen sind wir gerne hier und nirgendwo anders.

Zeit ist relativ(er) - am Schluss steht das Bühenbild